Berlin (Reuters) - Das schlechte Zeugnis der OECD hat drei Jahre nach der Pisa-Studie eine neue, heftige Debatte über die Zukunft des deutschen Bildungssystems ausgelöst.
Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) sprach am Dienstag bei der Vorstellung der Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von einem enormen Nachholbedarf, den es trotz erster Fortschritte gebe. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) forderte die Bundesländer auf, dem Beispiel des Bundes zu folgen und die Bildungsetats aufzustocken. Die Kultusminister der unionsregierten Länder, aber auch die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Doris Ahnen (SPD), warfen der OECD vor, geleistete Reformen nicht wahrhaben zu wollen und das Bildungswesen in Deutschland systematisch Schlechtzureden. CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer machte indes die rot-grünen Regierungen in Bund und Ländern für das schlechte Abschneiden verantwortlich.
Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften forderten die Politik auf, mehr Geld in Forschung und Bildung zu stecken. Bulmahn forderte die unionsregierten Länder auf, den Plan der Bundesregierung unterstützen, die Eigenheimzulage zu streichen und die frei werdenden Mittel in das Bildungswesen zu stecken.
OECD: DEUTSCHLAND BRINGT ZU WENIG AKADEMIKER HERVOR
Nach der OECD-Studie "Bildung auf einen Blick" ist der Wirtschaftsstandort Deutschland bedroht, weil das Land zu wenig für Bildung ausgibt, seine Schüler unzureichend fördert und vor allem zu wenig Akademiker hervorbringt. Während in den Ländern der Organisation durchschnittlich 32 Prozent der Studenten einen Abschluss an einer Fachhochschule oder Universität erzielten, liege die Quote in Deutschland nur bei 19 Prozent, sagte der OECD-Experte Andreas Schleicher. "Das Qualifikationsniveau in den OECD-Staaten ist seit 1995 dramatisch gestiegen, während in Deutschland nichts passiert ist."
Weil der Anteil der jungen Bevölkerung sinkt, muss Deutschland nach Schleichers Worten die Zahl der Akademiker in den kommenden Jahren deutlich ausweiten, um allein den derzeitig niedrigen Stand im OECD-Vergleich zu halten: "Es gibt in Deutschland einfach zu wenig junge Menschen, die mit hohen Qualifikationen in den Arbeitsmarkt kommen." Dabei steige der Bedarf der Wirtschaft an gut ausgebildeten Fachkräften ständig. Es könne in einer Wirtschaft nicht zu viele Akademiker geben.
OECD: FINANZIELLE AUSSTATTUNG DEUTLICH UNTER DURCHSCHNITT
Als besonders kritisch wertete Schleicher die im Vergleich zu anderen OECD-Nationen niedrige finanzielle Ausstattung des deutschen Bildungswesens. Während die anderen Länder bei einer Steigerung von einem Prozentpunkt seit 1995 im Durchschnitt 12,7 Prozent ihrer öffentlichen Ausgaben für Bildungseinrichtungen aufwendeten, liege Deutschland über die Jahre stabil bei 9,7 Prozent. Die Nettosteigerung der öffentlichen und privaten Ausgaben für Bildung habe zwischen 1995 und 2001 im OECD-Durchschnitt für den Schulbereich 21 Prozent und für den Hochschulbereich 30 Prozent erreicht. "Deutschland verzeichnete nur Plusraten von sechs und sieben Prozent."
Ein deutlicher Rückstand zu den anderen OECD-Ländern ergebe sich bei der Unterrichtszeit für die Schulanfängerjahrgänge, sagte Schleicher. So erreiche die jährliche Unterrichtszeit für Sechs- bis Siebenjährige in Deutschland mit 626 Stunden gut 160 Stunden weniger als der OECD-Mittelwert.
BULMAHN: STREICHUNG DER EIGENHEIMZULAGE LACKMUSTEST
Bulmahn hob die in den vergangenen Jahren erreichten Steigerungen der Abschluss- und Zugangsraten der Universitäten hervor: "Dort haben wir in den vergangenen Jahren Erfolge erzielen können." Sie teile aber die Einschätzung der OECD, dass deutlich mehr Mittel in das Bildungswesen fließen müssten: "Die Streichung der Eigenheimzulage ist der Lackmus-Test, ob es allen Beteiligten ernst ist." Schließlich ließen sich dadurch bis zu sechs Milliarden Euro im Jahr zusätzlich investieren.
Schröder sagte, der Etat für Bildung und Forschung sei in den vergangenen Jahren um 30 Prozent gestiegen. Deutschland werde in diesen Ausgaben nur noch von Schweden und Finnland übertroffen. Jetzt sei es Sache der Länder, ihrerseits das Notwendige zu tun: "Die Länder müssen nachziehen."
Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) wies die Ergebnisse der Studie mit scharfer Kritik zurück und erklärte für ihre Kollegen in den unionsregierten Ländern: "In Deutschland mangelt es nicht an Visionen und auch nicht an konkreten Reformen."
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte Reuters: "Wir brauchen dringend eine Bildungs- und Innovationsoffensive, die den Namen verdient, und eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir in unserem Land die Ressourcen richtig einsetzen." Die schlechte Situation im Bildungsbereich sei Folge einer falschen Prioritätensetzung. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, sprach sich für einen Pakt für Bildung aus.
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