Die weiße Möwe war entzückt, wenn man bei einem Vogel denn so etwas menschlich Anmutendes wie Entzückung vermuten darf, als sie den Schwarm kleiner blauer Fische entdeckte, welcher sich im Hafen von Qeynos tummelte. Einer dieser schmackhaften Appetithäppchen wird sicherlich wieder allzu neugierig sein und zu nah an die Oberfläche schwimmen, auf der Suche nach ein wenig Nahrung. Wie es ihr Instinkt indoktriniert, machte sich die Möwe auf ihrem Poller startbereit. Den Kopf gesenkt, die Augen auf die gleichmäßige Bewegung des Schwarms fixiert. Da, war das nicht gerade einer von ihnen? Verräterische Wellen gaben seine Position preis, nur noch wenige Sekunden und die Hungerfrage wäre für diesen Tag geklärt. Sie machte sich startbereit, jetzt war der richtige Zeitpunkt!
Ein Ruck ging durch den Schwarm und wo sich eben noch eine schmackhafte Ansammlung von Futter befand, durchpflügte im nächsten Augenblick der Bug eines Handelsschiffes den Hafen. Die weiße Möwe übertraf in diesem Moment kurzfristig die Leistung all ihrer Artgenossen und dachte etwas, was sich grob als „Blöde Menschen“ übersetzen ließe und flatterte davon.

„Endlich, Qeynos. Tavernen, Mädchen und ein weiches Bett!“. Fengbaum, Leichtmatrose an Bord der „Stern der sieben Meere“, freute sich unwahrscheinlich auf seinen Landgang. Vier Wochen anstrengende Fahrt waren auch für einen leidenschaftlichen Seefahrer, wie er es war, keine leichte Sache. Die Stürme hatten in diesen letzten Herbstmonaten sehr zugenommen, was nicht gerade zur Stimmung an Bord beitrug.
Aber daran wollte er jetzt nicht mehr denken, er wollte von Bord, in die nächst beste Taverne einkehren, sich ein hübsches Mädchen angeln, mit ihr bis in die späte Nacht tanzen und sie neben sich wissen, wenn er am nächsten Morgen in einem dieser bequemen Daunenbetten aufwachte.
Die „Stern“ lief an das Dock, Tampen wurden den wartenden Helfern zugeworfen und das Schiff sachgerecht vertäut. Die ersten Matrosen machten sich sofort auf in die „Mermaid’s Lure“ und Fengbaum folgte ihnen schnellen Schrittes, wobei er beinahe den Eruditen übersah, welcher sich im Schatten vor der Taverne aufhielt. „Oh, Verzeihung, euch kann man aber auch wirklich schlecht sehen!“, entschuldigte er sich flüchtig und wollte weitergehen, als ihn der Erudit am Arm packte. „Ich kenne euch. Ich habe euch in meinen Träumen gesehen.“.
Wieder einer dieser geistig umnachteten Fingerwackler, dachte sich Fengbaum, doch hatte er unlängst am eigenen Leib schmerzhaft erfahren müssen, dass man diese tunlichst mit Respekt behandeln sollte. „Kennen wir uns?“ fragte er vorsichtig. „Ich kenne euch, das muss genügen.“, erwiderte der Erudit. „Meine Name ist Oylrun, aber das tut nichts zur Sache. Weshalb ich euch aufhalte ist nicht weiter von Belang, nur war es zu genau dieser Zeit nötig.“.
„Äh ja, das ist wirklich… beruhigend zu wissen… macht es euch etwas aus, wenn ich euch nun verlasse?“ und schickte sich an, Oylruns Hand von seinem Arm zu heben. „Gewiss, geht weiter. Aber lasst mich euch noch raten, nicht in diese Taverne hier zu gehen.“, „Ich werde darüber nachdenken.“, erwiderte Fengbaum, löste sich aus dem Griff des Eruditen und ging schnurstracks in die „Mermaid’s Lure“.

„Und stell dir vor, kurz bevor ich hier reinkam, hat mich so ein besoffener Erudit angesprochen. Faselte was von Tagträumen und so Krams. Wenn du mich fragst, verbringen die allesamt zuviel Zeit an ihren Alchemietischen mit den ganzen benebelnden Dämpfen. Der wollte mir doch tatsächlich verbieten hier reinzukommen, stell dir das mal vor!“. Kaum waren diese letzten Worte verklungen, legte der Wirt sein leicht dümmlich zuhörendes Grinsen ab und riss besorgt seine Augen auf, „Wie hiess er?“ fragte er Fengbaum hastig. „Der Erudit? Olruin, Oyltun, oder so…“ „Oylrun?“, die Hatz in der Stimme des Wirtes war nur allzu deutlich, „Ja, kann schon sein.“ formte Fengbaum als Antwort, wurde aufgrund der Reaktion des Wirtes aber doch ein wenig misstrauisch.
„Verlasst sofort meine Taverne!“ forderte der Wirt ihn aus heiterem Himmel auf. „Was?“. „Ich sagte, ihr sollt sofort mein Lokal verlassen! Trinkt euer Bier woanders, aber nicht hier!“. „Moment mal, ich habe euch für jede Runde sofort bezahlt, ich habe keine Lust zu gehen, was soll das?“ fragte er brüsk.
„Ihr kennt Oylrun offenbar nicht. Er hat die Gabe, welche man ‚Das schwarze Sehen’ nennt. Er kann Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen, er weiß mehr, als jeder andere. Aber das ist schon mehr, als ich euch sagen dürfte. Herrgott, allein dass ihr weiter in meiner Taverne sitzt kann Unglück über mich bringen. Raus, raus, sofort! Lasst euer Kupfer stecken, verlasst nur sofort meine Taverne!“. Durch die gehobene Stimme des Wirtes wurden langsam die anderen Gäste aufmerksam und, was für Fengbaum viel beunruhigender war, die Türsteher. Er selbst war nicht gerade klein geraten, aber diese beiden Brecher an der Tür überragten ihn spielend um mindestens einen Kopf. Von der breite ihrer Schultern gar nicht erst zu sprechen und der grimmige Ausdruck auf ihren Gesichtern vervollständigte das Bild. Um sich Ärger zu ersparen, trank Fengbaum schnell den letzten Schluck Bier, warf ein paar Münzen auf die Theke, man weiß ja nie, was diese Tavernenbesitzer einem für Stricke drehen, wenn man nicht bezahlt, und verließ schleunigst die Lokalität.

Da ging er nun in durch die Straßen des Hafens und dachte über die Worte des Wirtes nach. Ein Seher, was hatte er noch gesagt? Geht nicht in diese Taverne. Na da hatte er verdammt noch mal recht, rausgeworfen worden ohne auch nur eine Schlägerei angefangen zu haben oder einer Bedienung zu Nahe gekommen zu sein. Aber war es das, was er meinte? Das macht doch keinen Sinn.
Während er über die Geschehnisse des Abends nachdachte, merkte er nicht, dass er den Hafenbezirk verließ, abwesend bemerkte er, dass er wohl gerade durch einen Wald ging. Ein Wald, mitten in der Stadt? Kaum hatte dieser Gedanke sein Bewusstsein erreicht, hatte er diesen auch schon wieder verlassen und fand sich in einem kleinen Dorf wieder. Die Steinbauten der Stadt hatte er hinter sich gelassen, das Bild war geprägt durch Holzhütten, Sandwege und seltsam anmutende Gestalten. Bei genauerem Hinsehen erkannte er diese als Waldelfen. Er musste wohl den Vorort Willow Wood erreicht haben. Vor Jahren hatte ihn ein mitfahrender Waldelf einmal von diesem Dörfchen erzählt. Wie schön es dort sei und dass dort Wald- und Halbelfen friedlich miteinander lebten.
Auch Elfen trinken Bier und ich brauch jetzt sofort eines, war der nächste Gedanke, den Fengbaum fasste. Nach kurzer Suche fand er auch etwas, was als Taverne durchgehen konnte. Es handelte sich zwar nur um den kleinen Schankraum einer Herberge, aber immerhin gab es hier Zwergen Dunkelbier. Das war jetzt genau das richtige.
Lag es am späten Abend oder der Gegend, zumindest war die Taverne sehr leer. Bis auf ihn und einen recht betrunkenen Zwerg, welcher sich wohl ebenso verlaufen hatte, befanden sich nur noch drei Halbelfen, welche eine ihm unbekannte Form von Darts spielten, und eine Waldelfin in der Herberge.
Die Waldelfin genoss Fengbaums besondere Aufmerksamkeit. Aufgrund ihrer Kleidung erkannte er sie als Druidin, was natürlich sein Interesse weckte. Was machte eine Druidin allein in einer Taverne? Er war gerade im Begriff, seinen Blick wieder auf die Halbelfen zu lenken, welche sich gerade köstlich über den Fehlwurf eines ihrer Kameraden amüsierten, als er aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass die Elfin ihn anblickte. Er wollte ihren Blick erwidern, aber kaum drehte er den Kopf, sah sie wieder auf etwas, was in weiter Ferne zu liegen schien.
Die spielt doch mit mir, das kenn ich doch. Dieses Spiel war ihm nur allzu vertraut, geheucheltes Desinteresse, um den Mann aufzufordern, sie zu umwerben.
Wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich die Vorzüge der Waldelfinnen testen, dachte er sich, bestellte noch schnell ein neues Zwergenbier und bewegte sich in Richtung der Elfin.
Doch kaum war er auf wenige Schritte an sie herangekommen, erhob sie sich und verließ die Herberge sehr eilig, nicht ohne ihm einen letzten Blick zuzuwerfen.
Normalerweise hätte er dieses Verhalten mit einem Kopfschütteln abgetan und sich wieder dem Alkohol gewidmet, doch diesmal spürte er ein Pochen in seinem Hinterkopf. Folge ihr. Folge ihr.
Ohne weiter nachzudenken gab er dieser Eingebung nach und folgte ihr in die Nacht. Doch wo war sie hin? In ihm keimte das Gefühl von einem fürchterlichen Verlust auf. Er musste sie finden, sofort. Er verfiel in schnelleren Gang, was war los mit ihm, es war so wichtig wie noch nichts in seinem Leben, diese Druidin musste er finden. Er fing an zu laufen, spähte nach ihr, sollte er sie rufen? Aber wie war ihr Name?
Aseake.
Aseake? Woher kam dieser Name, hatte er ihn irgendwo aufgeschnappt? Ihm war, alles wäre ihm dieser Name seit Jahren vertraut. Ich muss sie diese Nacht finden, ich muss. Woher kamen diese Gedanken? War er noch er selbst? Er hatte das Gefühl, sich selbst von außen zu sehen. Als wäre es nicht er selbst, der durch die nächtlichen Strassen von Willow Wood rannte, auf der Suche nach einer Frau, die er nicht einmal kannte. Wilde Gefühle von Verlust und Verzweiflung peitschten ihn, so war es nicht verwunderlich, dass er die Wurzel, welche mitten auf der Strasse aus der Erde ragte nicht sah, sich mit den Füssen in dieser verfang und taumelnd zu Fall kam.
Ein stechender Schmerz im Knöchel brachte seine Gedanken wieder zu ihm. Wo war er, was machte er hier? War er wirklich einer unbekannten hinterher gerannt, waren diese Gefühle seine?
Sanfte Hände auf seinem Bein rissen ihn aus seinen Überlegungen. „Ihr habt euch verletzt, lasst mich etwas Eichenrindenextrakt auf euren Knöchel streichen.“
„Aseake.“, die Waldelfin kniete neben ihm. Seine objektiven Gedanken verflüchtigten sich aufs Neue in Windeseile. Er hatte sie gefunden, er hatte Aseake gefunden, tiefe Befriedigung und ein wohliges Glücksgefühl bemächtigten sich seiner.
„Aseake Maleates.“
„Ich habe auf euch gewartet Fengbaum.“, die Druidin wickelte gerade einige Blätter um seinen versorgten Knöchel und sah ihn dabei an. Auf ihrem Gesicht war eine Mischung aus Freude und Besorgnis zu erkennen. „Ich habe euch nicht gleich gefunden, als ich die Taverne verliess.“, sagte ihr Fengbaum etwas hilflos.
„Das meine ich nicht. Ich habe sehr lange auf euch gewartet. Beinahe mein gesamtes Leben lang. Seit nun fast 50 Jahren warte ich auf euch. Jede Nacht sehe ich eurer Gesicht in meinen Träumen, jeden Abend der letzten Jahrzehnte wartete ich in der Taverne auf euch.“
Was sollte er erwidern? Ja, sie kam ihm so vertraut vor, als kenne er sie sein Leben lang, aber warum? Er hatte sie nie zuvor gesehen, ihr Gesicht kannte er bis vor wenigen Stunden nicht. Doch trotzdem war da diese Vertrautheit.
Die Vertrautheit ging übergangslos in Verlangen über. Sie war schön, sicherlich, aber so ein Verlangen hatte er noch nicht erlebt. Er spürte, dass sie dasselbe empfand. Er konnte nicht widerstehen, als lenken fremde Mächte seine Hand, berührte er ihre Wange, sie schloss die Augen und er empfing von ihr ein Gefühl von Erleichterung, unendlicher Erleichterung. Er spürte, wie die Last von Jahrzehnten von ihren Schultern fiel, als wäre sie nie vorhanden gewesen.

„Mein Schädel, ooh…“, waren die ersten Gedanken, die Fengbaum fassen konnte, als er erwachte. Was war letzte Nacht noch geschehen? Da fiel es ihm alles wieder ein. „Aseake.“. Wo befand er sich eigentlich? Er öffnete die Augen, was ihm sofort ein Stechen im Schädel bescherte, als ihn das Sonnenlicht wie ein Hammerschlag traf. Er drehte sich um und bemerkte, dass er in einem Daunenbett lag. Wie war er hierher gekommen? Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und begegnete dem Kater mit jener Routine, die jeder bekennende Quartalssäufer sein eigenen nennt; er übergab sich in den Nachttopf.

Als er die Treppe in die Herberge hinab schritt, kam ihm diese sofort vertraut vor. „The Mermaid’s Lure“! Hatte mich der Wirt nicht rausgeworfen?
Der Wirt stand an diesem frühen Morgen schon hinter der Theke und brach auf die Frage, wie Fengbaum hierher kam, in schallendes Gelächter aus. „Drei Halbelfen haben euch hier abgeliefert. Ihr solltet nicht soviel Zwergenbier saufen, wenn ihr es nicht vertragt.“

Fengbaum sass allein an seinem Tisch und dachte beim Frühstück über die letzte Nacht nach. Es war alles ein wenig verschwommen. Aseake, wo war sie? Und hatte ihn der Wirt nicht gestern hochkant aus der Tür geworfen, daran erinnerte er sich noch genau. Warum durfte er dann hier übernachten, wenn schon seine kurze Anwesenheit am gestrigen Abend Unglück bringen sollte?
Wahrscheinlich hat der Wirt Recht, dieses Zwergengebräu ist nicht das gesündeste.

Beim Aufstehen spürte er einen leichten Schmerz im Knöchel, schenkte diesem aber keine weitere Beachtung. „Wird Zeit, wieder an Bord zu gehen, sonst legen die noch ohne mich ab.“
Er war gerade im Begriff an Bord zu gehen, als er hinter sich schnelle Schritte hörte und ihm jemand gegen den Rücken prallte. Er dreht sich um und sah einen Eruditen am Boden liegen. Hilfsbereit wie er war, hob er ihn hoch, woraufhin dieser ihn mit verschwommenen Augen ansah, „Grosse Veränderungen stehen bevor, Fengbaum, Vater des Janus Maleates.“, hauchte Oylrun noch, als er in seinen Armen starb.