Fäden


Als das Warzenschwein Emilias, gemästet und schlachtreif, im heimischen Stall jenes schicksalsträchtige Loch im morschen Bretterverschlag entdeckte und sich quietsch-vergnügt durch die nächtlichen Straßen Freeports davonmachte… als der Erudite Oylrun besagte Hand samt Dolch durch den feinen Stoff seiner Robe im Rücken fühlte und gezwungen war, eine alte Weise immer und immer wieder zu singen… als die Gemeinde endlich versammelt um die Büste stand, die zu ehren sie gekommen war, bereit, die heiligen Worte zu murmeln, deren süßes Geheimnis sich endlich offenbaren sollte…

…da ahnte keiner, dass die Nacht Freeports begehrlich war, lüstern und verderblich, und heimlich alle Fäden zog, deren Enden unerreicht vom Fackelschein der Lager im Dunkeln kauerten und ruhten. Schlummerten.
Bisweilen – so erzählten und schwuren es später die Bettler, Schmuggler und Huren in Beggar´s Court – bisweilen aber trat das schwarze Sehnen an das Unverknüpfbare heran, strickte und wob, und es war einer dieser verdammten Nächte, zischelte es an den Herdfeuern und Nachtlagern. Das schwarze Sehnen war tief. War stark. Und alles rückte nun näher zusammen.

Der Faden rollt.

Der einzige und zugleich kostbarste Besitz, den die Gemeinde für sich beanspruchten konnte, bestand aus fünfzehn Teilen einer steinernen Büste. Der Glaube der Gemeinschaft wollte es, dass ein Opfer das Zusammenfügen der Teile begleiten und krönen muss, um die Gewalt des Steins zu entfesseln. Man versprach sich viel, wenn nicht alles. Und heute war der Tag gekommen. Nackt und erhitzt traten die Brüder und Schwestern in den Kreis der Verheißung, man sang und harrte des Opfers.


Singend und keuchend, keuchend und singend – quälte sich Oylrun unter dem fordernden Druck des Dolches und dem erstaunlich angenehm riechenden Atem seines Angreifers im Rücken vorwärts. War es eine Frau? Er überflog rasch die Liste seiner enttäuschten Liebschaften. Nichts.
Also sang man, stolperte man der Ungewissheit entgegen.


Salat galt als Delikatesse, der sich Emilias niemals hätte entziehen können. Die säuische Euphorie des nächtlichen Ausbruchs hatte sich verflüchtigt, die kurzen Beinchen zitterten unter dem Druck des angefressenen Schweinebauchs, den er wehleidig von einer dunklen Straßenecke zur nächsten über die Pflastersteine schob. Das Schwein fror – und fror nicht mehr, als sein Rüssel unter alten Kisten und zerfressenen Decken die offene Kellerluke einer Lagerhalle erstöberte: Grün, saftig, herrlich frisch hinter verschmierten Scheiben tat es sich aus der muffigen Dunkelheit hervor. Salat. Unzählige Köpfe in der Finsternis.

Die Frau ohne Namen beschäftigte Oylrun mehr als der Stahl zwischen seinen Schulterblättern. Wohin man ihn wie ein Schlachtvieh trieb, war ihm einerlei. Wenn er nur für einen Moment ihr Gesicht… sie aber hielt sich geschmeidig in seinem Rücken und keuchte nur manchmal leise vor Anstrengung. Sie schien leichtfüßig – und es ging hinunter. Während er sang – singen musste – zwang er sich zu einem Blick auf seine Füße. Er hatte Mühe, etwas zu erkennen, aber im Dämmerlicht einer mitgebrachten Fackel erspürte er die Kanten der Stufen mehr, als er sie wirklich ausmachen konnte. Dann aber entdeckte er es: Zwischen seinen Beinen tauchten von hinten immer wieder die Füße seiner Entführerin aus dem Nichts hervor, wie er selbst nach Halt suchend und tapsend:
Die Frau, die Angreiferin – sie trug keine Schuhe.


Schweiß und Mord, Tod und Verwesung tropfte, sank auf die Mäuler und Häupter der
Betenden, der verlangenden Gemeinschaft. Man war in Trance. Allein die Büste ruhte bedrohlich, lauernd. Adern traten hervor, man keuchte. Wollte nicht mehr warten. Konnte nicht mehr. Irgendwo sanken nackte Leiber ein, fielen kraftlos übereinander. Keiner rührte sich sonst. Tod und Stille.


Das Schwein suchte nicht mehr. Konnte nicht mehr. Schnüffelte nicht. Es hatte gewütet. Kopf um Kopf hatte der Feind einbüßen müssen, ehe Emilias langsam wankend durch das Lager trippelte. Rülpsend ließ er sich gegen die Wände sinken. Stemmte sich hoch. Ein paar Schritte – sah endlich eine Art Ausgang. Licht. Dort gab es Wärme – und Schlaf.

Die Angreiferin wurde hektisch. Nervös und wütender. Oylrun bekam es an der betreffenden Stelle im Rückgrat zu spüren. Er spie aus.
„Hexe“, fluchte er.
„Still jetzt.“ -- „Weiter!“
Das Licht langte so plötzlich in seine empfindlichen Augen, dass der Erudite für einen Moment die Frau vergaß. Sie stieß ihn weiter vorwärts. Oylrun machte zuerst nur Schemen aus, die wie bleiche Fetzen in einer flirrenden Hitze hingen. Nackte Leiber. Er zog die Brauen hoch. Der monotone Sing-Sang erstarb. Er selbst sang schon lange nicht mehr. Man starrte ihn an. Er aber – hatte nur Augen für die Frau, die sich aus seinem Rücken gelöst hatte. Der Kapuzenmantel glitt wie von selbst von ihren bleichen Schultern, eine alte, störende und überflüssige Haut. Sie war nicht halb so schön wie erwartet, aber immerhin war sie nackt. Oylrun grinste. Nicht lange.


Emilias keuchte, zögerte, war hin und her gerissen. Das Licht versprach so vieles. Lispelte. Auch die Stimmen, die ihm Angst eingejagt hatten, die ihn im Dunkeln, in Sicherheit bleiben ließen, waren verstummt. Allein ein fürchterlicher Schatten drohte dort im Licht, ein schrecklich starrendes Antlitz, riesig – und die Angst, es könnte der Bauer sein… Emilias wollte nicht zurück. Er schnaubte. Es musste sein. Quiekend trabte er los.


Das letzte Mosaikstück. Gierige Erwartung spannte die Leiber der Betenden. Manche weinten. Sie, die Hinterhältige, die Priesterin hielt zitternd das letzte Bruchstück an die Büste. Es passte. Noch rührte sich nichts. Oylrun kniete fasziniert wie unbeteiligt vor der Frau, die eine geschmückte Rituallanze in Anschlag gebracht hatte. Die Priesterin fixierte ihn. Die Speerspitze fixierte ihn ---

Der Faden rollt. Das schwarze Sehnen, das heimlich alle Fäden zieht, war stark. Und alles rückte nun näher zusammen.

Wie eine wütende, trächtige Sau kam der Gott aus dem Stein gefahren. Ein Schreien wie von gequälten Seelen überlagerte die Betenden, überschlug sich selbst. Die Gemeinschaft fuhr in Panik auseinander, als die Büste ihres geheimen Gottes von der Gewalt erfasst wurde und zersplitterte. Teile fauchten über die Köpfe der Fliehenden hinweg. Licht erlosch.


Emilias hatte den Bauer unterschätzt. Sein Kopf schmerzte. Menschen schlugen um sich, trafen ihn. Er ging über sie hinweg. Alles, was jetzt zählte, war Flucht.
Draußen erwartete ihn das schwarze Sehnen, geifernd und schniefend stob er in die Kälte davon.

Oylrun atmete. Atmete Staub. Flink zog er sich an einem eingestürzten Balken entlang, kam auf die Füße und kroch doch gleich darauf wieder auf allen Vieren in das Loch, aus dem der finstere Gott Emilias über die Welt gekommen war. Vor der Kellerluke zögerte er. Jemand war dort draußen. Ein Arm erschien in der Öffnung und winkte ihn zu sich. Die Priesterin war noch immer nackt und fror. Sie wirkte frustriert.
„Und jetzt?“, fragte Oylrun.
Sie schwieg und schüttelte den Kopf.

Der Faden rollt.